Ein Leben mit dem Suizid

Reflexionen

Die Bestatterin, Theologin und Direktorin Bestattungskultur der Ahorn Gruppe, Barbara Rolf, verlor ihren Bruder durch Suizid und kennt seit ihren Kindheitstagen auch eigene Suizidgedanken. Während ihrer Tätigkeit als Bestatterin begleitete sie zahlreiche Familien, die jemanden aus ihrem persönlichen Umfeld durch Selbsttötung verloren haben. Als Trauerrednerin würdigte sie viele Menschen, die sich das Leben nahmen. Mit der friedlotse-Autorin Charlotte Wiedemann sprach sie offen über all das – dabei herausgekommen ist ein Plädoyer gegen das Urteilen, das Wegschauen und die Gleichgültigkeit. 

 

 

Dieses Gespräch entstand anlässlich der Zusammenarbeit mit dem Museum für Sepulkralkultur in Kassel zu der Ausstellung „Suizid - Let’s talk about it“ und ist gemeinsam mit vielen anderen Beiträgen in der dazugehörigen Publikation erschienen. 

Charlotte Wiedemann: Du hattest bereits als Kind Suizidgedanken. Weißt Du, woher die kamen?

Barbara Rolf: Wir sind früher jeden Sonntag in die Kirche gegangen, und danach unterhielt man sich gerne noch etwas mit anderen Gemeindemitgliedern auf dem Kirchplatz. Ich erinnere mich, dass ich als Kind dort einmal hörte: „Der hat sich das Leben genommen.“ Später habe ich meine Mutter danach gefragt, was das bedeutet und fand das total interessant. Ich fand das als Option großartig, dass man sich töten kann, wenn man nicht mehr leben möchte.

Hat Dir das eine Freiheit vermittelt?

Genau. Ich hatte nicht das Bedürfnis, es selbst zu tun, aber ich weiß, dass ich dachte: „Es gibt einen Notausgang. Jederzeit.“ Ich hatte also von Anfang an kein moralisches Problem damit, sondern habe eher eine Loyalität, ein tiefes Verständnis für die Betroffenen empfunden. Ich war früher auch Ministrantin und habe besonders gerne Suizidierten die letzte Ehre erwiesen. Es war ja tatsächlich so, dass manchmal nicht mal eine Pfarrerin oder ein Pfarrer in solchen Fällen kam, weil „Gott ins Handwerk gepfuscht“ wurde. Wobei unser Pfarrer zum Glück gar nicht so war.

 

 

Dein Hang zur Selbstbestimmung hat sich früh gezeigt.

Ja ... Und es ging mir dabei auch um Gerechtigkeit. Mein Bruder war kurioserweise ein totaler Gegner von Suizid. Auch aus religiösen Gründen. Das war immer wieder mal ein Streitthema zwischen uns. Für mich war keine Frage, dass Gott besonders bei denen ist, die nicht mehr weiterwissen.

Kam der Suizid Deines Bruders also überraschend für Dich?

Sein Suizid hatte etwas total Absurdes. Die Polizei klingelte nachts um vier Uhr bei uns. Als ich die Polizisten vor der Tür stehen sah, war mir klar, dass das kein gutes Zeichen sein konnte. Als ich dann hörte, dass er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, habe ich gesagt: „Das kann nicht sein. Das ist völlig ausgeschlossen, der war doch total gegen sowas.“

Wie war es genau passiert?

Mein Bruder kam eines Nachts etwas angetrunken in eine Polizeikontrolle. Seine Freundin sagte vorher wohl zu ihm: „Sei vorsichtig. Fahr langsam. Hinter uns ist Polizei.“ Aber wie in einer Kurzschlussreaktion hat er dann aufs Gas getreten und ist sogar über Rot gefahren. Da hat die Polizei natürlich die Verfolgung aufgenommen. Als er anhalten musste und einer der Polizisten zu ihm an die Fahrertür kam, zog mein Bruder eine Pistole und schoss sich in den Kopf. Er ist dann später im Krankenhaus gestorben. Es war ein ganz kleines Einschussloch, doch die Munition hatte sich im Kopf geteilt. Wir wussten alle nicht, dass er so eine Waffe hat.

 

 

Hatte er dann doch vorher entsprechende Gedanken, was meinst Du?

Nein. Die Waffe trug er wohl eher aus Faszination und vielleicht, weil er das männlich fand. Ich bin mir sicher, dass er das zehn Minuten später nicht mehr gemacht hätte. Er hat sich also mehr im Affekt, in einem Moment der Panik getötet. Es gäbe sicher ungleich mehr Suizide, wenn wir uns jeden Moment töten könnten. Wenn ich das jetzt, in dieser Sekunde für mich entscheiden würde, könnte ich mich ja gar nicht töten. Aktuell liegt hier nur dieses unscharfe Messer (zeigt ein Buttermesser und lacht). Mein Bruder konnte sich leider in diesem kurzen Moment der gefühlten Ausweglosigkeit aus dem Staub machen. Noch ein Grund mehr, am Waffenverbot festzuhalten. Ich bin ganz klar dafür, dass Menschen selbst entscheiden, wann sie gehen möchten, aber bitte nicht in einem einmaligen, vorübergehenden Impuls und einer Fehleinschätzung von Situationen.

Wie ging es Dir im ersten Moment, als Du es erfahren hast?

Meine Aufmerksamkeit war anfangs viel bei seiner Freundin, die das alles miterleben musste. Mein zweiter Gedanke war: Das müssen wir als Familie hinkriegen. Ich will nicht, dass jetzt alles kaputt geht. Ich habe dann alle angerufen und es ihnen gesagt. Zu meiner Oma sind wir hingefahren und mussten es ihr so sagen, dass sie nicht noch selbst daran stirbt. Ihren Schrei werde ich nie vergessen. Das war brutal.

 

 

Wie hat euer Umfeld reagiert?

Ich finde sehr gut und solidarisch. Ein Freund der Familie kam noch am selben Abend zu uns. Das fand ich total mutig. Viele haben sich erst mal nicht getraut, Kontakt aufzunehmen. Was soll man da schon sagen, wenn sowas passiert? Das verstehe ich auch. Nur über einen habe ich mich sehr geärgert, der in Frage stellte, ob unser Pfarrer kommen würde bei der Beerdigung. Da war ich wirklich wütend. Seine Mutmaßung war auch unbegründet. Der Pfarrer hat das wunderbar gemacht, es kamen viele Ministrantinnen, Messdiener und hunderte Trauergäste zur Beerdigung.

Wurden Deine eigenen Suizidgedanken dadurch präsenter?

Im Gegenteil. Meine eigenen Pläne wurden dadurch eher vereitelt, weil ich ja merkte, wie unzumutbar das eigentlich für die Hinterbliebenen ist. Ich konnte ja nicht das zweite Kind sein, das sich umbringt. Mein Vater war schon älter zu dem Zeitpunkt und der Tod meines Bruders eine wahnsinnige Überforderung für ihn. Daher beschloss ich mindestens zu warten, bis mein Vater tot wäre. Aber als er dann tot war, war das gerade kein Thema.

Das heißt, Du warst dann eigentlich erst mal fremdbestimmt in Bezug auf Deine eigenen Suizidgedanken?

Ja, ein bisschen ausgebremst schon. Wenn man sich töten möchte, sind einem die Befindlichkeiten der anderen irgendwann egal. Ich war aber noch nicht an diesem Point of no Return. Es gab einen sehr kritischen Punkt, wo ich fast das Lenkrad meines Autos herübergezogen hätte und gegen einen Brückenpfeiler gefahren wäre. Aber dann malte ich mir doch aus, was das bedeuten würde, für mich als Leiche und für meine Familie, wenn die Polizei klingelt, schon wieder ...

 

 

Wie bist Du an diesen Punkt gekommen?

Wie gesagt, ich kenne diese Gedanken schon immer. Sehr konkret wurden sie, als mein Bestattungsinstitut (Bestattungen Rolf in Stuttgart, Anm. d. Red.) zu gut lief, und ich immer dachte: Das wird bestimmt irgendwann weniger, und bis dahin schlafe ich eben weniger und arbeite schneller. Es war ein Wunder, dass das so lange gut ging. Ich konnte schon lange nicht mehr alle Anfragen bearbeiten. Mich hat sehr belastet, dass ich den Erwartungen und Hoffnungen nicht mehr gerecht werden konnte. Und ich habe meine Grenzen immer wieder überschritten, die Rede eben doch selbst gehalten, die Totenwaschung doch selbst gemacht. Ich habe mich immer wieder verausgabt, und für die Familien, die von Suizid betroffen waren, umso mehr. Irgendwann fühlte ich mich wie mit dem Rücken zur Wand. Ich konnte keinen Schritt mehr gehen, in keine Richtung, und dachte immer häufiger, dass eine Selbsttötung ein Ausweg wäre. Aber das ist kein Freitod, wenn man sich so tötet. Das ist ein Unfreitod. Dann habe ich mich in psychotherapeutische Begleitung und medizinische Behandlung begeben und mich nach potenziellen Kaufinteressenten für mein Unternehmen umgesehen. Seitdem hat sich meine Lage enorm verbessert, auch wenn ich sagen muss, dass ich so etwas wie eine am ganzen Körper gefühlte Lebensfreude seit der Depression kaum mehr gespürt habe. Die meisten Menschen, mit denen ich über ihre früheren Suizidgedanken oder gar -versuche gesprochen habe, sind heute sehr froh, es nicht getan oder geschafft zu haben. Das kann ich für mich so nicht sagen, auch wenn mich das selbst immer wieder verblüfft. Es ist in Ordnung für mich, es nicht getan zu haben. Ich bin momentan relativ gern in diesem Leben. Ich spüre jedoch sehr klar, dass es für mich auch in Ordnung wäre, tot zu sein. Froh bin ich, das den mir nahen Menschen nicht zugemutet zu haben. Und für meine Tochter war es Voraussetzung, auf die Welt zu kommen. Momentan scheint sie das sehr gut zu finden. Ich kenne wenig derart lebenshungrige Menschen wie sie.

 

 

Ich bin froh, dass Du es nicht getan hast. Sonst hätte ich Dich nie kennengelernt.

Dann wiederum hättest Du auch nicht gewusst, dass es mich gegeben hat und hättest mich also auch nicht vermisst.

Kennst Du immer noch Anflüge solcher Überforderungsgedanken?

Ja. Aber ich bin besser darin geworden, „Nein“ zu sagen und meine Kapazitäten einzuschätzen. Das Delta zwischen dem, was ich noch leisten möchte und leisten kann, ist trotzdem immer noch groß. Das ist ein lebenslanger Lernprozess.

 

 

Hat Dein Kind Deine Sicht auf die Dinge verändert?

Ich kenne die Suizidgedanken trotzdem noch. Auch deshalb war ich zum Beispiel froh, als meine Tochter abgestillt war und sie mich als „Muttertier“ nicht mehr so brauchte wie vorher. Ich erwische mich immer wieder bei der Frage, ob ihre Bezugspersonen auch meine elterlichen Pflichten übernehmen könnten. Ich sage nicht, dass es passieren wird, aber ich weiß, dass es eine Möglichkeit ist. Außerdem ist so oder so nicht verbrieft, dass ich alt werde. Es gibt ja zahlreiche Möglichkeiten, sein Leben zu lassen. Ich weiß, dass Anna dann in guten Händen wäre und mache mir diesbezüglich wenig Sorgen. Zumal sie stark ist. Die macht ihren Weg, mit mir oder ohne mich.

 

 

Meinst Du, dass Deine spirituelle Verankerung, der Glaube an eine fortgeführte Existenz, in welcher Form auch immer, mit Deiner Haltung gegenüber Suizid zu tun hat?

Der Gedanke kam mir noch nie, aber das kann gut sein. Leben ist für mich immer, nicht nur die Lebenszeit hier. Zweifellos ist der physische Tod ein großes Ereignis, aber auch nur eine Veränderung von Leben. Aber natürlich habe ich keine Ahnung, in welcher Form sich das Leben dann fortsetzt.

Du bist vielleicht gerade durch Deine Erlebnisse und Gedanken zu dem empathischen Menschen geworden, den ich kenne. Meinst Du, Du kannst Dich auch im Beruf deshalb besser auf Hinterbliebene einstellen?

Es gibt viel mehr Menschen, als wir denken, die eine große Traurigkeit verspüren oder sich vom Leben überfordert fühlen oder an Suizid denken. Mir gegenüber öffnen sich viele Menschen, weil sie merken, dass ich diese Gedanken nicht verurteile oder zurückweise. Viele sind ja erst mal geschockt, wenn man so etwas äußert. Ich muss mich da manchmal richtig zurücknehmen, dass ich nicht zu locker über dieses Thema plaudere. Für mich ist Suizid einfach so vertraut, durch meine Lebensgeschichte, meine Gedanken dazu und natürlich auch durch meinen Bestattungsalltag. Da konnte ich einigen Hinterbliebenen auch helfen, nicht vorrangig Wut oder Scham zu spüren. Vielen hat geholfen, ihre Verstorbenen noch mal zu sehen und selbst zu erleben, wieviel Frieden von ihnen ausging. Das hat dabei geholfen, die Entscheidung anzunehmen und vielleicht zu verstehen.

 

 

Was müsste sich gesellschaftlich ändern, um mit Suizid anders umzugehen?

Er darf nicht länger ein Tabuthema sein. Menschen sollten sich stärker trauen dürfen, über Suizidgedanken oder -erfahrungen zu sprechen. Auch in meiner Familie war das Thema: Wie erzählen wir diese Geschichte? Und es war schnell klar: Genau so, wie sie passiert ist. Wir wollten nicht unser Leben lang eine Lüge verwalten, und wir wollten geschlossen hinter meinem Bruder stehen. In unserer Gesellschaft töten sich Menschen, weil sie sich ihr Leben nicht mehr leisten können oder weil sie beispielsweise die Brutalität unserer Tierhaltung nicht mehr aushalten. Andere leiden so unter Ausgrenzung, unter Homophobie zum Beispiel oder unter Rassismus, dass sie sich das Leben nehmen. Kinder bringen sich um, weil sie gemobbt werden oder alte Menschen, weil sie unendlich einsam sind. Dafür schäme ich mich. Und das sollte ein Appell an uns alle sein. Wenn jemand lebensmüde ist und nicht mehr kann, ist die Frage ja: Willst Du nicht mehr leben oder willst Du so nicht mehr leben? Ich glaube, in den allermeisten Fällen ist es Letzteres. Und die, die wirklich nicht mehr leben möchten, weil sie keine Lust oder keine Kraft mehr haben oder weil sie krank sind, die haben meines Erachtens auch jedes Recht, abzutreten.

Ich danke Dir sehr für das offene Gespräch.

 

 

Auf den Social Media-Kanälen von friedlotse erscheinen in den kommenden Wochen Beiträge zum Thema Suizid: Berichte von Betroffenen, Erfahrungen von Fachleuten und Hilfsangebote. 
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Abbildungen: Bilder 1, 3 - 11 Angelika Frey, Abbildung 2 Collage von rechts nach links: Francesca Woodman (USA) House #3 Providence, Rhode Island (1975–1976/2001), Untitled Providence, Rhode Island (1976/2010), Untitled Boulder, Colorado (1972–1975/1999–2000), Untitled Providence, Rhode Island (1975-1978/2002) Schwarz-Weiß Silbergelatineabzüge auf Barytpapier
© Estate of Francesca Woodman / Charles Woodman / Artists Rights Society (ARS), New York & VG BILD-Kunst, 2021 / VERBUND COLLECTION, Vienna





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