Nicht ohne deine Leiche

Rituale

Es waren die schönsten und schrecklichsten Momente im Leben von Georg Kronthaler. 

Sein Sohn war in jener Nacht 2006 in einem österreichischen Krankenhaus gesund auf die Welt gekommen. Doch fast zeitgleich verdurstete sein Bruder Markus auf dem 8051 m hohen Broad Peak. 

„Die Nachricht war, dass er wahrscheinlich tot ist – das war zu dem Zeitpunkt noch nicht mal ganz sicher – und dass er am Gipfel des Achttausenders liegt“, erzählt Kronthaler im Gespräch mit friedlotse. „In der Bergsteigerszene war völlig klar: Der kommt nicht mehr zurück.“

Die darauffolgende Trauerfeier in Kufstein empfand Kronthaler als Hohn. 
„Ich dachte nur: Was soll das? Wir können uns das Ganze hier sparen. Die wichtigste Person, um die es hier geht, ist nicht da. Die Vorstellung, dass er tot ist, war völlig unmöglich.“ 

Und er fasste einen Plan: „Wenn ich hier rausgehe, werde ich bekanntgeben, dass ich den Markus hole. Egal wie schwierig es wird.“

Eine solche Bergung aus der sogenannten Todeszone war bis dahin noch nicht erfolgreich durchgeführt worden. Als Georg Kronthaler ein Jahr später zu einer spektakulären Rettungsaktion aufbrach, wog eine schwere Last auf seinen Schultern: Er ließ seine junge Familie hinter sich und seine Eltern in der Angst zurück, vielleicht auch noch den zweiten Sohn zu verlieren. Dazu kam massiver juristischer Druck; es durfte nichts passieren. Keine weiteren Menschenleben für einen Toten. 

Trotzdem gab es für Kronthaler keinen anderen Weg. „Am schlimmsten war es für meine Mutter. Sie konnte nicht Abschied nehmen, weil sie immer drauf gewartet hätte, dass der Markus zurückkommt. Und mir ging es genauso. Ich hab nicht geglaubt, dass er tot ist.“

Auf dem Weg ins Grenzgebiet zwischen China und Pakistan überschlagen sich seine Gedanken. „Ich hatte natürlich Angst, dass wir ihn nicht finden. Aber ich hab auch immer gedacht: Dann bringen wir den runter und der Körper erwärmt sich, und vielleicht fängt der wieder an zu atmen. Dieser irrsinnige Gedanke hat mich fast umgebracht.“

Wie eine Erlösung fühlt sich dann der Moment der ersten Berührung an – bei gefühlt minus 40 Grad.

Der hat sich angefühlt wie ein Holzklotz. Da war einfach nichts mehr da. Das war der Zeitpunkt, wo ich verstanden habe, dass ich das akzeptieren muss.

 

 

Kronthalers Geschichte macht deutlich, dass zum Trauern nach Möglichkeit das ‚Begreifen‘ des Leichnams gehört. Dass das wirklich Unerträgliche die Ungewissheit ist und das sichere Erkennen eine Befreiung sein kann. Und dass die Auseinandersetzung mit dem Verstorbenen hier nicht zu Ende ist, sondern vielmehr erst wirklich beginnen kann. 

Denn normalerweise wollen wir uns mit einer Trauerfeier versichern: Das ist unser Mensch, der hier vor uns liegt. Wir sagen einander: Leugnen ist zwecklos. Das hier ist die Realität und es gibt Zeugen. Wir müssen uns verabschieden, einander trösten und den Toten freigeben. 

Eckhard Frick schreibt in seinem Buch Psychosomatische Anthropologie: „Für den Trauernden ist der Leichnam … etwas, das angefasst werden muss, um das Unheimliche und Unverständliche des Todes ‚begreifen‘ zu können. Begreifen läuft über das eigenleibliche Spüren. Wenn dieses Begreifen nicht möglich ist, also wenn die Leiche verloren ist, kann dies die Trauerarbeit erschweren.“ 

Die Angst um verschollene und unversorgte Verstorbene wird dieser Tage wieder lebendig. Im Zuge der Coronakrise haben sich Bilder in unseren Köpfen eingebrannt, beispielsweise aus Italien, wo die Verstorbenen in den Krankenhäusern und Krematorien zeitweise kaum gezählt werden konnten, oder auch aus New York, wo auf der Insel Hart Island Massengräber ausgehoben wurden.

 

 

Gleichzeitig kommen seit Jahren tausende Menschen im Mittelmeer ums Leben, die nicht mehr identifiziert werden können und um die sich – fast – niemand kümmert. Die italienische Forensikprofessorin Christina Cattaneo möchte das nicht hinnehmen und hat ein Buch darüber geschrieben.

Dabei wissen wir genau, wie sich das auf der anderen Seite anfühlt. Ahorns Bestattungskulturbeauftragte Barbara Rolf erinnert sich an den großen Tsunami Weihnachten 2004: „Wenn Verstorbene überhaupt gefunden und identifiziert wurden, bekamen die Hinterbliebenen in aller Regel nur deren Asche übersandt. 
Eine Mutter habe ich damals begleitet, deren fünfjähriger Sohn ertrunken und dann lange vermisst war. Sie wusste monatelang nicht, ob er noch lebt. 
Sie setzte durch, dass er nicht kremiert, sondern in einem Metallsarg nach Deutschland geflogen wurde, um einen DNA-Test machen zu lassen. Sie musste hundertprozentig sicher sein, dass er es war.“

Für Eltern ist es immer sehr wichtig, dass die Kinder wieder nach Hause kommen.

 

Dies bestätigt Annett Naumann, die seit Jahren für Horizont International Überführungen von Verstorbenen organisiert, im Gespräch mit friedlotse. „Gerade wenn die Angehörigen nicht mit am Unglücksort waren und die Todesnachricht zum Beispiel von der Polizei überbracht wird, ist das sehr unwirklich und schwer zu begreifen.“ 

Wenn eine Überführung gar nicht mehr möglich ist, kann oft vor Ort eine Bestattung stattfinden, so Naumann. Je nachdem, ob die Reise für die Zugehörigen in dem Moment möglich ist oder nicht, können sie entweder dabei sein oder später das Grab besuchen. 

In Thailand wurden damals viele Menschen kremiert und die Asche übersandt oder vor Ort mit Blumen ins Wasser gestreut als Teil des dortigen Rituals – davon konnten immerhin in manchen Fällen Fotos gemacht und mit Familie und Freunden geteilt werden. 

„Wir hatten schon viele Fälle, in denen die Verstorbenen erst viel später aufgetaucht sind“, erzählt Annett Naumann, „bei Ertrinken zum Beispiel. Auch wenn der Leichnam gar nicht mehr auftaucht, ist es sicher eine gute Idee, an den Ort zu reisen und zumindest symbolisch Abschied zu nehmen.“

Und sie ergänzt: „Es ist auch ganz wichtig, dass die Zugehörigen die letzten Fotos bekommen, das Tagebuch, Handy oder andere persönliche Sachen, die im Gepäck waren. Diese haben einen hohen ideellen Wert und bekommen als Erinnerungsstücke eine wichtige Bedeutung.“

 

 

Wer vor der Herausforderung steht, eine Trauerfeier ohne Verstorbenen organisieren zu müssen, kann sich prinzipiell zwischen zwei Vorgehensweisen entscheiden – oder sie miteinander kombinieren. 

Mir ist vor allem der Ort wichtig

  • Man kann auch ohne sterbliche Überreste ein Grab kaufen und die Bestattungsfeier um den leeren Sarg oder die leere Urne ausrichten.
    Vorteil: Althergebrachte oder individuell kreierte Rituale spenden Trost. 
    Nachteil: Manche empfinden das Gefühl der Abwesenheit als übermächtig.
  • Viele Friedhöfe haben zentrale Gedenkplätze, an denen Inschriften angebracht werden können. Eine andere Möglichkeit ist ein Zusatz am Familiengrab. 
  • Auf dem Friedhof oder an einem anderen privaten Ort können persönliche Gegenstände, zum Beispiel das letzte Gepäck eines Verunglückten oder das Lieblingsstofftier eines Kindes, vergraben werden.

Mir ist vor allem die Gemeinschaft wichtig

  • Für die Abschiedsfeier kann ein Porträt des Verstorbenen aufgestellt werden, bevor die Trauernden Blumen, Briefe oder andere letzte Grüße am Gedenkplatz niederlegen.  
  • Wo die Trauergemeinschaft weit verstreut ist oder es keinen Bestattungsort gibt, bietet das Internet verschiedene Möglichkeiten: statt oder zusätzlich zu einer physischen Grabstätte kann eine virtuelle eingerichtet werden, sei es über Facebook, Trauerforen oder eine private Cloud. 
  • Alternativ kann auch ganz analog eine spezielle Zeit an die Trauernden kommuniziert werden, zu der alle gleichzeitig aufgerufen sind, innezuhalten und auf die eigene Art dem Verstorbenen zu gedenken. So kann jeder an seinem Ort und mit seinem Ritual den Abschied durchleben und es so vielleicht tröstlich finden, dass der Tote in den Gedanken all jener weiterlebt. 

 

 

Selbst im äußersten Fall ist es also noch möglich, zumindest bestimmte Teile des Abschieds selbstbestimmt zu gestalten. Und dass es aufgrund von Covid-19 zu chaosähnlichen Zuständen kommt, in denen man seine Verstorbenen nicht mehr zuordnen kann, davon ist – Stand heute – hierzulande nicht auszugehen. 

Laut Annett Naumann sind die Überführungen Covid-19-Verstorbener wegen des eingeschränkten Flugverkehrs, verlangsamter Behörden und genereller Unsicherheiten mit dem Umgang des neuen Virus zwar stark verzögert, aber sie finden in aller Regel, und zumeist in Urnen, statt.

Auch Georg Kronthaler hatte ursprünglich geplant, seinen Bruder in Islamabad einäschern zu lassen und in der Urne zu überführen. Als er ihn allerdings eigenhändig auf einem Holzstapel anzünden sollte, entschied er sich dafür, den Leichnam im Sarg nach Österreich in ein Krematorium zu transportieren. 

Ein Teil der Asche liegt nun in der Urne, die in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof in Kufstein beigesetzt wurde. Der andere Teil wurde auf einem Gipfel des Kaisergebirges verstreut. 

„Wir haben noch nie eine Feuerbestattung gehabt. Aber Markus hatte sich das so gewünscht“, sagt Kronthaler. „Sein Tod wird mich mein ganzes Leben begleiten. Aber die Erleichterung, dass er zuhause ist und dass keinem was passiert ist und dass dieses Kapitel abgeschlossen ist, ist riesig. Wir konnten ihn loslassen. Das war eine Wahnsinnserleichterung.“

 

[Bilder: Angelika Frey]





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