Der digitale Friedhof - Wie verändern sich die Rolle des Friedhofs und Gedenkens in einer zunehmend digitalen Alltagskultur?

Möglichkeiten

 

Die Pandemie ist in den letzten zwei Jahren ein extremer Beschleuniger neuer Entwicklungen gewesen, die auch vor dem Friedhof nicht Halt machen. Daneben ist natürlich der Einfluss der Digitalisierung auf unser Leben – und auch auf den Tod, auf Trauer und Erinnerung – ein wichtiges Thema.

Unser Alltag verändert sich und findet zu großen Teilen online statt. Laut einer aktuellen Studie verbringen die Deutschen aktuell 65 Stunden pro Woche im Netz. Wir alle erschaffen tagtäglich ein zweites, digitales Leben, zwischen zahllosen digitalen Welten, Social Media, Foto-Clouds, Krypto-Währungen und ganz aktuell: NFTs (Non Fungible Tokens).

Damit stellt sich die Frage: Werden wir künftig auch zwei Tode sterben, einen in der Realität und einen im Netz? Und wo wird unser digitales Ich dann beerdigt werden? Wird es überhaupt noch beerdigt?

Viele Entwicklungen passieren wie nebenbei, ganz ohne unser Zutun. Eine Studie der Oxford Universität hat herausgefunden, dass Facebook bereits auf dem besten Weg ist, der größte (Daten-)Friedhof der Welt zu werden. Der Wendepunkt könnte in weniger als 50 Jahren erreicht sein. Dann wird es mehr tote als lebende Nutzerinnen und Nutzer auf der Plattform geben.

Ist es da nicht höchste Zeit, dass wir diese neuen Plattformen des Gedenkens mitgestalten?

 

 

Viele von uns sind sich der Menge an Daten nicht bewusst, mit denen wir unseren digitalen Zwilling tagtäglich füttern und die vielleicht irgendwann beginnen, ihr eigenes Leben zu leben.

Während Erinnerungen früher in unseren Köpfen, Herzen und auf ein paar Fotos lebten, werden diese künftig online in einer Endlosschleife wiederholt. Erinnern und Trauern, wie wir es kennen, verändert sich, ist scheinbar nie wirklich abgeschlossen.

Der Soziologe Lorenz Widmaier, der dieses Thema auch ausgiebig untersucht, hat in seiner Arbeit den folgenden Satz geprägt: „Es wird immer dort getrauert, wo auch gelebt wurde.“ Trauer und Erinnerung wandern also ganz selbstverständlich ins Netz, denn dort hat die verstorbene Person Spuren hinterlassen, dort findet sich eine Vielzahl „lebendiger“ Erinnerungen.

So ist es heute schon üblich, dass unmittelbar nach dem Tod eines Menschen Trauerbekundungen und Kondolenz auf verschiedensten Portalen erscheinen, sich Freunde vielleicht sogar unmittelbar via Zoom in einer Art Trauerraum zusammenfinden. Dies passiert ad hoc – man wartet nicht mehr auf die Beerdigung, nach der man eine Karte an die Familie sendet. Sogar die königliche Familie Großbritanniens wies nach Prinz Philips Tod 2021 über Twitter auf ein Online-Kondolenzbuch hin.

 

 

Entsprechend wird gerade versucht, die Grundidee des Friedhofs als zentralen Gedenkort ins Netz zu überführen.

In China wird jedes Jahr traditionell das Qingming-Fest, auch bekannt als Tag der Grabpflege, gefeiert, an dem die Menschen ihren Vorfahren Tribut zollen. Da dieses Angebot in der Pandemie stark eingeschränkt war, ergänzten es Friedhöfe in der Form, dass Trauernde online ihrer verstorbenen Menschen gedenken oder Friedhofsangestellte bitten konnten, in ihrem Namen ihre Gräber zu fegen. Letzteres wurde dann dokumentiert und in die Cloud hochgeladen. Teilweise wurde auch per Drohne die Niederlegung von Blumen gefilmt.

Das wurde so gut angenommen, dass ein Friedhof in Shanghai eine digitale Friedhofswelt erschaffen hat, in der man sich nun selbst bewegen und digitale Gräber besuchen kann.

Die Akzeptanz dieser Angebote, auch zwischen den pandemischen Wellen, ist hoch: 1,27 Millionen Besuche von Grabfegern wurden auf „Cloud“-Kanälen registriert, verglichen mit 17.400 im vergangenen Jahr zur gleichen Zeit.

 

 

Doch während dies alles Versuche sind, herkömmliche Rituale des Gedenkens zu digitalisieren, entwickeln sich auch ganz neue Formen. Aktive Teilhabe spielt dabei eine große Rolle. Menschen wollen ihre eigene Form des Gedenkens finden und mitgestalten.

Das deutsche Startup Farvel ermöglicht es, einen digitalen Erinnerungsraum zu erschaffen – nach Vorlage oder gänzlich eigenen Ideen. Man kann einen Lieblingsraum der individuellen Lebensrealität nachbauen oder eine Fantasie-Insel erschaffen, je nachdem wie und wo man erinnert werden möchte.

Dieser Ort im Netz ist wie ein virtuelles Grab, an dem man gedenken kann, das alle besuchen können. Gleichzeitig ist es ein lebendiger Ort, der sich verändert und im Austausch gestaltet werden kann.

All diese Beispiele zeigen: Wir sterben, aber wir verschwinden nicht mehr.

 

 

Gedenken wird also in Zukunft eine Mischform annehmen. Der Friedhof vernetzt sich und bekommt damit eine lebendigere Rolle zugeschrieben. Er bewahrt nicht nur, sondern befördert neue Interaktion.

Ein Beispiel für „hybrides Gedenken“ sind die Grabkameras einer amerikanischen Firma mit dem bezeichnenden Namen Aftr.live, die auf oder vor dem Grabstein platziert werden können. Von jedem Ort der Welt kann man sich so zu jeder Tages- und Nachtzeit am Grab eines lieben Menschen befinden. Es können Videos und Erinnerungen hinterlegt werden, und man kann eine Spotify-Playliste abspielen, vielleicht mit passenden Lieblingsstücken der verstorbenen Person. Hier verschmelzen online und offline.

Bereits 2008 gab es in Japan die ersten Grabsteine mit QR Code, mittlerweile gibt es diese auch hier in Deutschland. Steinmetze finden verschiedene kreative Methoden, um diese auf dem Stein zu platzieren, oder es werden separate Tags benutzt.

Die personalisierten Codes bieten mehr Raum für Erinnerungen und Informationen, als traditionelle Grabsteine ​​das können. Es geht immer mehr darum, die Geschichte hinter den Namen zu erzählen, die mehr umfasst als nur ein paar Eckdaten.

 

 

Auch der TOLAD-Wanderstock einer niederländischen Firma verbindet die physische und digitale Welt. Die Asche wird oben in eine Kapsel gefüllt, und beim Auftreffen des Stockes auf dem Boden wird kontinuierlich Asche verstreut, ungefähr 500 Mal. Man kann damit eine Gedenk-Wanderung machen. Ein GPS-Tracker zeichnet den Weg auf, sodass man diesen jederzeit wieder nachverfolgen kann, als Erinnerungsweg sozusagen.

Natürlich bestehen in den Niederlanden andere Gesetze als in Deutschland, was das Verstreuen von Asche anbelangt, dennoch ist es interessant, sich davon inspirieren zu lassen und die Veränderung der Wünsche und Bedürfnisse zu verstehen. Denn viele Sterbende haben den Wunsch, in die Natur zurückzukehren und den Kreislauf des Lebens zu schließen – und viele Hinterbliebene möchten sich aktiv mit der Trauerbewältigung beschäftigen.

 

 

 

Die Frage, die sich nach alledem stellt, ist: Welche Rolle spielt der Friedhof in Zukunft?

Seine Rolle als zentraler Trauer- und Gedenkort verschwimmt – Gedenken an geliebte Menschen findet an vielfältigen Orten, in unterschiedlichsten Räumen statt und ist in der modernen Gesellschaft vielleicht online sogar besser verfügbar.

Das Netz unterstützt allerdings auch eine ausgeprägte Individualisierung. Das kollektive Element fehlt, die Einbettung in gesellschaftliche Zusammenhänge. Ein Friedhof ist auch ein sozialer und gemeinschaftlicher Raum – das Grab eines Menschen wird in Beziehung zu anderen gesehen, es ist ein Abbild der Gemeinschaft, ein Spiegel der Nachbarschaft. Trauernde treffen andere Trauernde und können sich dadurch getröstet fühlen. Friedhöfe erinnern die Lebenden daran, dass wir nicht vergessen werden. Im Internet ist das Gedenken viel individueller, konzentriert auf eine Person.⁠

Wie schätzt du die Rolle des Friedhofs in Zukunft ein?

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Vielen Dank an die Trendforscherin Stefanie Schillmöller, die im Rahmen eines gemeinsamen Vortrags für die Arbeitsgemeinschaft Friedhof & Denkmal e. V. am Sepulkralkulturmuseum in Kassel an diesem spannenden Thema für friedlotse gearbeitet hat.

 

[Bilder: Angelika Frey]





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