Wilkins Welt

Möglichkeiten
Wilkin

Wenn beide Eltern auf einmal sterben, gehen viele Geschichten verloren. Stattdessen muss das Haus mit einem sprechen. 

An einem Tag im Oktober kann Wilkin nach einem Besuch bei seiner todkranken Mutter seinen Vater nicht erreichen. Dass er um diese Zeit nicht ans Telefon geht, ist ungewöhnlich.

Nach mehreren Versuchen ruft er den Nachbarn an und bittet ihn, mal nachzusehen. Der schließt die Tür auf, tritt ins Haus und sagt: „Ach warte mal, Wilkin – scheiße.“ 

Auch ohne viele weitere Worte weiß Wilkin, was los ist. Ein Schlaganfall. Vermutlich viel zu lange unentdeckt. „Das war wie eine Ohnmacht. Ich wollte das nicht wahrhaben“, erzählt er mir heute, ein gutes halbes Jahr später. „Aber ich wusste auch, dass es passiert ist und immer noch passiert. Und ich dachte nur: Nee. Ein trotziges Nee. Nicht er auch noch.“

Der Fund im Oktober ist der Beginn eines Tunnels, wie Wilkin es ausdrückt. 
Auf der Intensivstation verabschiedet er sich mit seiner Schwester von seinem sterbenden Vater. Seine Mutter kann nicht dabei sein. Sie liegt immer noch in der anderen Klinik und bekommt von ihren Kindern nur den Ehering ihres Mannes überbracht. 

Kurz darauf dann die Frage der Ärztin, ob Wilkin sich schon um ein Hospiz für sie gekümmert hätte. „Das ist dann der Punkt, wo du es einfach nur noch auf dich zukommen lässt,“ sagt er. 

Du schläfst nicht mehr, du duschst nicht mehr. Wir konnten nur noch da sein. Alles andere war egal.

Die letzten Tage weichen die erwachsenen Kinder ihrer Mutter nicht von der Seite. Äußerlich schläft sie, innerlich scheint das Leben an ihr vorbeizufliegen. Manchmal fragt sie: „Wollen Sie sich ummelden?“, wohl ein Schlüsselsatz aus ihrer langjährigen Tätigkeit beim Bürgeramt. Wilkin schmunzelt bei dem Gedanken. 

 

Dann ist allen klar, dass es zu Ende geht. Wilkin erinnert sich: „Wir wussten ja, dass wir alle in diesem Zimmer sind, weil sie sterben wird und dass sie einfach ohne Schmerzen einschlafen soll. Und trotzdem haben wir, als es dann passiert ist, wie in einem Reflex den Schwesternknopf gedrückt. Das war total absurd.“ 
Wohl der Wunsch, doch alles noch einmal umkehren zu können, gemischt mit der Erkenntnis, dass man nun alleine weitermachen muss. 

Seine Mutter stirbt in der Charité auf dem Virchow-Gelände, nur sechs Tage nach ihrem Mann, der hier bereits fünf Jahre zuvor zu Beginn seiner Krankheit untergebracht war. 
Zwei nicht mehr ganz junge, aber auch nicht besonders alte, immer noch sehr aktive Menschen. Zwei unterschiedliche Lebens- und Krankheitsverläufe, die sich ausgerechnet in derselben Woche im Tod überkreuzen. Das ist fast schon romantisch. Aber vor allem tragisch. 

„Nach dem Tod meines Vaters war das wie ein Job: Wir müssen für unsere Mutter stark sein. Erst danach haben wir realisiert: Beide.“ Für dieses Realisieren war es wichtig, dass er noch mal bei seiner toten Mutter im Zimmer war, um die Sachen zu holen, sagt Wilkin. „Für mich war es danach einfach real. Ich wusste es dann.“

 

 

Zusammen mit seiner Schwester fährt er wenig später von Berlin ins Elternhaus im Berliner Umland. 

Es war eine große Stille an diesem Tag. Keiner hat sich gemeldet. Nichts.

 

Und bald darauf der Gedanke: Könnte er hier wohnen? 

Vor einigen Jahren hatten die Eltern beide Kinder gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, das Haus einmal zu übernehmen. Zu dem Zeitpunkt ging es beiden gut, es war ein leichter Moment. „Ich habe gesagt: Ich kann mir das vorstellen“, sagt Wilkin. „Aber ich dachte, wir reden von in zwanzig oder dreißig Jahren, also natürlich erst dann, wenn es überhaupt soweit ist“

 

 

Wir sitzen im gepflegten Garten eben dieses Hauses an einem sommerlichen Tag im Juni. Wilkin baut hier Kartoffeln, Zucchini und Auberginen, außerdem Melonen und Koriander an. Ein alter Waschtisch steht am Zaun, ein möglicher Getränkekühler, wenn diesen Sommer nach und nach der Berliner Freundeskreis anreist. Die Rosen blühen hier seit dem Bau 1997, da war Wilkin 15. Eine Trauerweide und eine Trauerbuche wurden damals auch gepflanzt – darüber hätte sich früher wohl niemand Gedanken gemacht.

 

 

Zum Mittagessen gibt es klare Hühnersuppe, wie seine Mutter sie gerne mochte, auch ihre zahlreichen selbst angerührten und eingelegten Konserven sind noch in den Schränken und auf dem Tisch. Der Duft des selbst gebackenen Brotes hängt in der Luft.

 

 

Im letzten halben Jahr ist viel passiert. Wilkin hat seine Wohnung in Berlin aufgegeben und verwebt nun buchstäblich Stück für Stück die elterliche Lebenswelt mit der eigenen. Wenn beide Elternteile auf einmal sterben, hat man keines mehr, das einem Geschichten über den jeweils anderen erzählen kann. Stattdessen muss das Haus mit einem sprechen.

 

 

Und es spricht auch mit seinen Besuchern. Seine Wände erzählen von der großen Leistung, die Wilkin hier täglich vollbringt – kopfüber in die Erinnerungen eintauchen, nicht wegkönnen, sich permanent mit seiner Vergangenheit und den Beziehungen innerhalb der Familie auseinandersetzen. 

Er scheint dabei sehr ruhig und friedlich. Eins ist klar – dieser selbstbestimmte Prozess fernab jeder Verdrängung scheint ihm gut zu tun.

 

 

Mittlerweile sehen das auch seine Freunde so. Am Anfang fragten sie noch: „Wie stellst du dir das jetzt vor?“ Und Wilkin dachte dann: „Du, schauen wir mal. Ich mach das ja auch zum ersten Mal.“ 

„Ich habe mich nicht gefragt: ‚Was macht das jetzt mit meinem Leben? Passt das in mein Konzept? Wie will ich mich privat weiterentwickeln, wenn ich auf dem Land lebe? Wie mache ich das alles ohne Auto?‘ Ich hab es halt einfach gemacht.“

 

 

Kurz nach dem Umzug kam Corona. Wieder mal eine Situation, der er sich nicht entziehen konnte. Erst mal nur er und das Haus und die Sachen. Dann kommen allmählich wieder Freunde, packen mit an, sind beeindruckt, was er da schafft. 

„Es hilft, wenn ich merke, dass es Leute gibt, die diesen Schritt auch wahrnehmen. Auch wenn sie nicht anrufen, aber dass es rattert, was bei mir gerade passiert und was bei ihnen vielleicht auch mal passieren könnte. Denn jeder wird sich ja irgendwann in einer ähnlichen Situation wiederfinden.“

Eine Situation, um die sich niemand reißt, und die Gott sei Dank selten mit so einer immensen Schlagkraft wie in Wilkins Fall auftritt. „Neulich meinte jemand zu mir: ‚Du kannst so froh sein, dass du ein Haus hast.‘ Und ich dachte nur: ‚Wenn du wüsstest!‘ 
Wenn ich es mir aussuchen könnte, sollen die bitte wiederkommen und wir geben das Haus auf. Das ist kein Geschenk.“

 

 

Er erinnert sich an die erste Zeit direkt nach jener Woche im Oktober. „Die ersten Monate war es, als würde permanent jemand an einem zerren. Ständig hast du nur Kosten im Kopf. Alles wird mit Ökonomie begründet, eine komische, perverse Wirtschaftlichkeit. Der du dann ja auch folgst seltsamerweise. Ich habe ja auch als erstes die Mobilfunkverträge gekündigt.

Dabei ist dieses Tempo, das ich mir selber auferlegt hatte, gar nicht nötig. Du kriegst ja alles auch im Nachhinein zurückerstattet. Das heißt, ich muss nicht an einem Samstag, an dem ich sehr betrübt bin, auf Serviceseiten umhersurfen. Das ist Quatsch.“

Trotzdem waren vor allem finanzielle Themen wie Kredite anfangs sehr belastend. „Welche Summe auf dem Haus war, wussten wir nicht. Ich bin von der Hälfte ausgegangen. Das war sehr ambivalent. Manchmal dachte ich: ‚Natürlich kriegen wir das hin.‘ Und manchmal auch: ‚Oh mein Gott, das fliegt uns hier alles um die Ohren.‘“  

Dazu kam der organisatorische Druck. Menschen, die einen auch in der akutesten Phase wegen irgendwelcher Versicherungen nicht in Ruhe ließen und sich sogar selbst nach Hause einluden. Behörden, die auf seine Geschichte mit dem Kommentar reagierten: „Und da melden Sie sich erst jetzt?“ 

Eine ungeheure Verantwortung, die an so einem Haus hängt. Nichts darf einem egal sein, weil es mit Kosten verbunden ist und weil einem die Eltern gefühlt über die Schulter schauen. Wilkin sagt:

Ich fühle mich, als hätte ich Hausaufgaben, die mir niemand aufgegeben hat.

„Wenn ich in Berlin bin und es stürmt, denke ich: ‚Wer guckt jetzt nach dem Haus?‘ Momentan suche ich jemanden, der die Therme wartet. Das sind normalerweise wirklich nicht meine Themen. In Berlin konnte ich umbekümmert, fast kindlich naiv die Dinge auf mich zukommen lassen und jetzt denke ich ständig: ‚Oh Gott. Ich bin ein Erwachsener.‘“ 

 

 

Ähnlich konkret sind die Herausforderungen, denen er sich momentan im Einrichtungsprozess gegenübersieht. Die Plattensammlung des Vaters fügt sich gut ins neue Wohnzimmer ein, aber was macht man nur mit einer großen CD-Sammlung, die man nicht hört? „Früher oder später werden wir uns davon trennen,“ meint Wilkin. „Irgendwie ist da eine Stimme: ‚Das könnt ihr doch jetzt nicht machen.‘ Dabei hätten gerade die beiden uns zum Verkauf geraten.“

Dass er sie danach nicht mehr fragen kann, ist traurig, und auch, dass sie an einem Grillabend mit der Schwester im Garten nicht dabei sind, fühlt sich immer noch surreal und falsch an. 

Doch oft spürt er auch eine große Dankbarkeit für seine Situation:

Dass wir hier einfach sein und rumstöbern können, ist ein gefühlter Luxus. Auch wenn sie nicht mehr da sind, haben sie das hier ja hinterlassen und uns einen Ort gegeben, mit dem wir auch in Zukunft einen Anker haben.

 

 

Wir – das sind nicht ‚nur noch wir zwei‘, das sind ‚immerhin noch wir zwei‘, sagt Wilkin über sich und seine Schwester. Lange haben sie sich gefragt, wann das raue Meer in ihnen endlich wieder zur ruhigeren See wird. In Momenten, in denen sie sich von Anderen unverstanden fühlen, blättern sie in Traueranzeigen, weil sie denken, dass die Zugehörigen durch ein ähnliches Gefühl gehen müssen wie sie selbst. 

„Wenn ich an sie denke, sehe ich sie als gesunde Menschen, die am Leben hingen“, sagt Wilkin. „Sie waren zwar krank, aber sie waren nicht ihre Krankheit.“

Genauso wenig ist Wilkin seine Trauer. Ganz allmählich findet er zu einer neuen Normalität und sogar zu Momenten des Glücks zurück. „Es ist angekommen und ich kann es nicht rückgängig machen“, sagt er.

Wenn ich nicht mein Leben lang von dieser Sache bestimmt werden möchte, kann ich nur eins: sie annehmen. Die Situation muss umarmt werden.

 

 

Viele Trauernde sehen sich beim Ordnen vergangener Leben ähnlichen Herausforderungen wie Wilkin gegenüber. Kreative wie Anemone Zeim oder Pavel Radchenko helfen ihnen dabei, ihrer Trauer künstlerisch Ausdruck zu verleihen und den Schmerz nach und nach loszulassen, während Erinnerungsstücke bewahrt und transformiert werden.

Anemone Zeim, Vergiss Mein Nie

„In der Erinnerungsarbeit hältst du jeden Gegenstand in den Händen und fragst dich: ‚Warum hebe ich das auf? Ist es ein Kraftspender oder eher ein Auftrag von meinem Schuldgefühl, dass ich es bewahre und eigentlich erinnert es mich nur an den Schmerz?‘
Gut ist etwas, aus dem man etwas Individuelles machen kann, z. B. kann man einen alten Pullover von der Mutter aufribbeln und sich daraus etwas Neues stricken. Gut sind auch unser Erinnerungsglas oder das Erinnerungsmobile

 

 

Da kannst du ein paar Erinnerungsstücke repräsentativ verwenden und den Rest wegtun oder die Erinnerungsstücke je nach Stimmung wechseln. In Zeiten des Kontrollverlusts ist sowas sehr wertvoll. Die Dinge hierfür zu kuratieren ist in sich schon ein Verarbeitungsprozess, der zwar quälend sein kann, sich aber immer lohnt. Denn in dem Moment, wo du aktiv in die Situation eingreifst, wirst du ein Stückchen mehr Herr über die Lage. Du stellst die Dinge so hin, wie sie für dich passen und nimmst sie so mit in die Zukunft. Wir wollen ja nur den Schmerz loslassen, die Erlebnisse und Gefühle dürfen wir mitnehmen.“

 

 

Pavel Radchenko, Philosoph & Trauerkünstler:

„Der Prozess ist tatsächlich höchst individuell und es geht auch immer darum, dass die Menschen selbst Hand anlegen. Bezogen auf Wilkins konkrete Herausforderungen könnte man Freunde und Familie einladen, dass sie sich CDs aussuchen dürfen. So könnte man dabei Erinnerungen austauschen und es könnte vielleicht sogar eine schöne Party entstehen. 

Man könnte die CDs auch auf ästhetische Art und Weise sortieren und arrangieren, danach abfotografieren und aus all diesen Dingen, die man nicht behalten wollte, später ein Buch binden lassen. 

Trauerkunst ist, wenn man die alten Dinge transformiert und sie zu einer neuen Ausdrucksform macht. Dazu darf man sie auch zerstören und neu zusammenfügen. Tipp: Beginne mit den Dingen, die keine oder wenig Bedeutung haben und taste dich langsam an deinen künstlerischen Prozess heran. Vielleicht musst du mal auf eine alte Uhr hauen und eine Schraube herausnehmen oder Porzellankätzchen zerschmettern, um weitermachen zu können. Man muss es einfach ausprobieren.

Außerdem würde ich empfehlen, eine Ecke einzurichten, in der man seiner Trauer nachspüren kann an Weihnachten, am Geburts- oder Todestag, oder einfach, wenn einem gerade der Austausch fehlt – das muss kein Altar sein, einfach ein Ort, an dem Dinge sind, von denen man sagt: Das ist der Spirit meiner Eltern.“

 

 

Sowohl Anemone als auch Pavel waren im Interview beeindruckt, wie weit Wilkin schon gekommen ist. Dass er sich die Zeit nimmt, die er braucht und sich gleichzeitig nicht vor Veränderung scheut. Wir sind gespannt, wie das Haus in einem Jahr aussieht und sich dann für Wilkin anfühlt. Denn das wird es erst mal für ihn bleiben – ein ständiger Prozess.

 





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