Von Mode und Sterblichkeit

Künstlerische Auseinandersetzung

Eine alte Weisheit besagt, dass das letzte Hemd keine Taschen habe. Wenn man nun aber doch welche draufschneidern würde? Und sogar noch Sachen hineintun, um zumindest den gedanklichen Übergang von der einen in die andere Welt zu erleichtern?
 
Für ein friedlotse-Experiment kamen im September 30 Studierende der Akademie für Mode und Design (AMD) aus ganz Deutschland in Berlin zusammen, um – als eine Antwort auf die Frage: „Wie möchtest du erinnert werden? – einen Nachruf auf sich selbst zu schreiben und dann ihr eigenes Sterbekleid zu entwerfen.

 

 

Nach vier Tagen kreativem Prozess, Diskussion, intensiver Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen und Wünschen und Teamarbeit im ersten Präsenzseminar nach der Pandemie waren die Totenhemden fertig, wurden der Gruppe präsentiert und abschließend für eine virtuelle Nachwelt digitalisiert. Denn feststeht: Die Endlichkeit unserer irdischen Hülle und das Betreten einer Art Jenseits sind etwas, mit dem wir schon zu Lebzeiten experimentieren können, indem wir Teil der digitalen Ewigkeit des Internets werden.

 

 

Hier lest ihr einige der Gedanken der Studierenden zu ihren Entwürfen und seht die Ergebnisse ihrer Arbeit, die uns darin bestätigt haben, dass die Form der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod nicht individueller sein könnte.

 

 

Julian:

„Für mich sind Erinnerungen und vor allem Erinnerungen an Verstorbene immer schmerzhaft, da sie immer mit der Tatsache verbunden sind, dass man sich nie wieder sehen und eine weitere gemeinsame Erinnerung haben wird. Diese Wunden heilen nie vollständig und sind trotzdem nicht sichtbar. Für mich können diese Wunden jederzeit wieder aufgerissen werden. Es gibt bestimmte Auslöser, die sie wieder öffnen. Für mich repräsentieren die Pflaster daher die Tatsache, dass die Wunde nicht heilt und man sie nicht physisch sehen kann, abgesehen von der Körpersprache.

Pflaster sollen Wunden abdecken und vor Schmutz schützen, aber wir können anhand ihrer Körpersprache immer noch sehen, dass die Person Schmerzen hat. Überall im Outfit und in der Tasche sind Stecknadeln angebracht, um das Aufreißen der Wunden darzustellen und wie Schmerzen uns davon abhalten können, so zu leben, wie wir es wollen, wie wir vorsichtiger werden, weil wir Angst haben, wieder verletzt zu werden.

In gewisser Weise verwandeln sie sich auch in Schutzschilde, um Menschen von einem fernzuhalten. Die Pflaster an der Wirbelsäule sind für mich besonders bedeutungsvoll, weil sie eine Verletzung eines geliebten Menschen darstellen, die niemals heilen wird, egal wie viele Pflaster man darauf klebt. 

‚Wie möchte ich in Erinnerung bleiben?‘ Ich möchte auf die am wenigsten schmerzhafte Weise in Erinnerung bleiben.”

 

 

Marlene:

„Ich bin meine Erinnerungen. Ich bin meine Erfahrungen. Ich bin meine Fehler. Ich bin meine Perfektion. Ich bin meine Unvollkommenheiten.
Ich bin ich aufgrund von Trauma. Ich bin ich aufgrund von Liebe. Ich bin ich aufgrund von Freundschaft. Ich bin ich, weil ich es bin.“

 

 

Loic:

„Wenn ich heute sterben würde, würde ich gerne als vollkommen unvollkommener Mensch in Erinnerung bleiben. Jemand, der genauso verrückt wie nett war; ein treuer Freund, ein lästiger kleiner Bruder, ein beschützender großer Bruder und eine Nervensäge für meine Eltern. Jemand, der viel kämpfen musste, innerlich und äußerlich, aber nie aufgegeben und immer sein Bestes gegeben hat. Ich denke, es ist mir wichtig, dass ich für die Menschen, die mir am nächsten stehen, in freundlicher Erinnerung bleibe, obwohl ich viel Zeit im Schatten verbracht habe. Ich möchte jedoch auch nicht, dass sie das Schlechte an mir ignorieren. Meine Erinnerung soll eine wahrhaftige, ungefilterte Realität von mir sein, die sie zum Lachen bringt, unter die Haut geht, tröstet oder Angst macht. Ich wäre nicht zufrieden mit meinem Leben, wenn ich heute sterben würde, aber ich hoffe, dass meine Freunde und Familie mich in ihrer Erinnerung lebendig halten würden.“

 

 

Malte:

„Das Leben ist gefüllt mit vielen Dingen, wunderbaren, schlechten und neutralen. Das Beste am Leben ist, am Leben zu sein, und da die Lebendigkeit der wahre Sinn des Lebens ist, ist der Tod meiner Meinung nach genauso wichtig, weil es ein Ende geben muss, um etwas Neues zu beginnen. Genauso ist es mit Licht und Schatten, die beiden sind perfekt ausbalanciert und brauchen einander, um existieren zu können.

Was für mich das Leben am besten symbolisiert, ist die Liebe und das Schaffen von Leben, zum Beispiel symbolisiert durch eine Hochzeit, also habe ich einen Schleier als Inspiration für die Maske gewählt. Der Tod wird durch die verwendeten Farben Rot, Schwarz und Weiß angedeutet, das sind die Farben der Trauer in Südamerika, Europa und im Buddhismus. Er wird auch durch das Design der Ärmel visualisiert, die sich an den Akt des Suizids – einen großen Teil meines Lebens – anlehnen.

Für die kreative Umsetzung habe ich mich entschieden, alte Kleidung aufzuwerten, weil sie dem Leben sehr ähnelt: Das Kleidungsstück verbraucht sich, wird wieder zum Leben erweckt, existiert dann weiter und irgendwann verschwindet es, genau wie wir.“

 

 

Joyce:

„Wir alle wollen in Erinnerung bleiben. Auf der einen Seite wollen wir kontrollieren, wie andere uns wahrnehmen, auf der anderen Seite haben wir den Wunsch, wahrhaftig zu sein.

Ich habe mich entschieden, meine Jadeanhänger hier zu verwenden, weil sie Geschenke meiner Familie waren. Jeder von ihnen hat eine Bedeutung und sollen mir zum Beispiel dabei helfen, geerdet oder konzentriert zu sein. Ich trage sie an Tagen, an denen ich das Gefühl habe, dass ich mehr Kraft brauche, um meine Arbeiten zu erledigen. Vielleicht ist es nur ein Placebo, aber ich habe das Gefühl, dass es funktioniert, es gibt mir zumindest ein Gefühl von Komfort und Sicherheit.“

 

 

Paulina:

„Meine Freunde oder meine ‚selbstgewählte Familie‘, wie ich sie nenne, sind mir sehr wichtig, deshalb dokumentiere ich unsere Erlebnisse, zum Beispiel unsere Nächte in einem Nachtclub, den wir gemeinsam gegründet haben.

Im Laufe der Jahre habe ich ein großes Archiv von Fotografien dieser Menschen gesammelt, aus denen ich für meine Lederjacke eine Collage erstellt habe. Es ist mein Leben in Bildern.“

 

 

Arina:

„Mein Charakter wird durch meine Vergangenheit und die Liebe der Menschen, die mich umgeben, definiert, doch für mich ist es wichtig, dass man sich an meinen Namen erinnert.

Ich bin Arina. Als ich über meinen Namen nachdachte, erinnerte ich mich an ein Handtuch aus meiner Kindheit, auf das mein Name in kyrillischen Buchstaben gestickt ist: ‚АРИНА‘.
Ich habe dieses Handtuch seit meiner Geburt, und wenn ich meine Familie im russischen Wolgograd besuche, legt es meine Großmutter immer für mich bereit.
Es folgt mir bereits seit 20 Jahren durch mein Leben. Es wird wohl bis zu meinem Tod präsent bleiben.“

 

 

Trang:

„Als uns die Frage gestellt wurde: ‚Wie würdest du gerne in Erinnerung bleiben, wenn du heute sterben würdest?‘, dachte ich zuerst darüber nach, dass ich Angst habe, alt zu werden. Ich weiß nicht wirklich, warum. Vielleicht liegt es daran, dass ich in der Lage bleiben möchte, alleine aufzustehen, nicht von anderen abhängig zu sein oder einfach an der Angst, meine Jugend zu verlieren? Logischerweise wäre es also das Beste, wenn ich jetzt in meiner ‚Prime Time‘ sterben würde, während ich noch hübsch bin, damit sich die Leute so an mich erinnern können.

Aber wie schon jemand anderes hier im Kurs sagte, wäre ich sehr unglücklich darüber, wie mein Leben verlaufen ist wenn ich in diesem Moment sterben würde. Ich habe ein Zitat aus einem meiner Lieblingsfilme ‚Chungking Express‘ von Wong Kar-Wai auf das Kleid geschrieben (‚Somehow everything comes with an expiry date. If memories ever come in a can, I hope they can never expire.‘ / ‚Alles hat ein Haltbarkeitsdatum. Wenn Erinnerungen jemals in Konserven kommen, hoffe ich, dass sie nie schlecht werden.‘), weil ich gerne durch etwas in Erinnerung bleiben möchte, das ich getan oder geschaffen habe, sei es Mode oder Kunst oder etwas anderes. Ich möchte einen Fußabdruck von mir selbst auf der Erde hinterlassen.“

 

 

Kilian & Belanna:

„Der Mensch verewigt sich psychisch und kann sein Bewusstsein zunehmend auch in die digitale Welt übersetzen. Die Technologie verspricht uns ewiges Leben. Der Tod ist damit nur ein technisches Problem und kann selbst bestimmt werden. Die irdische Hülle wird dann sekundär, da Trendwelten der Vergangenheit angehören und die nächste Entwicklungsstufe beschritten wird.
In unserem Entwurf bleibt eine Art Kokon zurück beim Übertritt in diese neue metaphysische Welt. Das Leichentuch verweilt in der alten Welt und vergeht.“

 

 

Hier findet ihr die Website mit allen Entwürfen für ein digitales Jenseits. 

Produktion & Design: Christina Lehmkuhl

Der Kurs wurde von der friedlotse-Autorin Charlotte Wiedemann und der Stylistin Viviane Hausstein geleitet.

Danke an die AMD und Nicole Hardt. 

[Fotos: Angelika Frey]

 





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