
Der Brotkanten hat sich kaum verändert. Leichter ist er geworden, im Lauf von 64 Jahren wich alle Feuchtigkeit aus ihm. Jetzt liegt er als Grabbeigabe in Robert Herrmanns Sarg. Er starb im April mit 84. Das Brot begleitete ihn bis dahin, und begleitet ihn weiter.
Das Stück Mischbrot steht für eine ganze Lebensgeschichte. Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen. Flüchtlingselend. Entwurzelung. Hunger. Es steht für Entbehrung, Bescheidenheit, für den starken Glauben an Gott. Und für Herrmanns Mutter Theresa, die ihm das Brotstück einst in die Hand drückte mit den Worten: „Nimm das mit als Notration.“ 1956 war das. Robert Herrmann, der Schuhmachergeselle, hatte beschlossen, in die große Welt hinauszuziehen.
Seine Wanderzeit endete in Stuttgart, wo er Postbeamter wurde. Wirtschaftswunder. Tanzbälle. Sekt unterm Weihnachtsbaum. Schwarzwaldwanderungen mit Anni, die seine Frau wurde. Als Pensionär liebte Herrmann seinen Schrebergarten auf dem Killesberg. Was da alles wuchs! Das Brotstück, sagte Robert Herrmann, als er schon unheilbar krank war, sei für ihn eine Verbindung zur Schöpfung. Und zur Mutter. Jetzt kann er ihr das Brot zurückgeben – er musste die Notration nie anbrechen.

Andreas Reiner hat, so war es besprochen, Herrmanns Leichnam im Sarg fotografiert. Mit dem Brot. Weitere rund 20 solcher Bilder sind im vergangenen Jahr entstanden: Verstorbene aus dem Raum Stuttgart und Oberschwaben mit ihren wichtigsten Habseligkeiten.
Die Sargbeigaben sagen: „Das war ich.“ Manchmal haben Todkranke wie Herrmann auf Reiners Facebook-Aufruf geantwortet und bestimmt: „Das will ich mitnehmen.“ In den meisten Fällen meldeten sich Angehörige, die über ein Bestattungsunternehmen von dem Projekt erfuhren hatten, und suchten schließlich aus, welche Dinge dazu sollten. So entstanden die letzten Bilder – oder wie Reiner die Serie nennt: „Abbild Leben“.
„Die Fotos können eine Stütze auf dem Trauerweg sein“, sagt Reiner. In den meisten Familienalben gibt es nur Aufnahmen des Lebenden: in der Wiege, mit Schultüte, am Italienstrand, bei der Silberhochzeit. Eigentlich gehört das letzte Bild dazu. Ende. Das Buch ist abgeschlossen.

Bei der Auswahl der Beigaben passiere etwas mit den Angehörigen. „Dann fängt es im Kopf an zu rattern“, sagt Reiner. „Wenn ich den Sarg aufmache, bekomme ich eine Ahnung, was für ein Mensch da liegt.“
Auf einem der Fotos hat ein Mädchen ihrer Uroma einen Brief mitgegeben. Im Sarg der alten Frau liegt auch eine Tüte voll Backerbsen. Dafür war sie berühmt im ganzen Ort, die machte sie immer selbst als Suppeneinlage. Bis zum Schluss hat sie in ihrer Wirtschaft gekocht. Als tief in der katholischen Kirche verwurzelte Frau hält sie einen Rosenkranz und ein einfaches Holzkreuz in ihren Händen. Auch das bezeugen die Bilder: Im schwäbischen Oberland spielt der Glaube noch eine tragendere Rolle als in der Großstadt.
In Stuttgart stand ein Mann bis zum Ende fest im Glauben an den VfB, furchtlos und treu. Sein Leben war so eng mit dem Fußballverein verbunden, dass Fanschal, Stadionwurst und VfB-Mütze bei ihm blieben.

Ein Foto zeigt eine alte Frau und ihren weißen Plüschbären, der ihr in den letzten Tagen Sicherheit schenkte. Auf einem Foto hält ein Mann einen Strauß getrockneter Blumen und Gräser. Auf einem anderen sind etliche Schnappschüsse von Familienfesten im Sarg ausgebreitet. Dazwischen eine Flasche Nattheimer Bier, ein Birnenbrand und eine Tafel Schokolade, Geschmacksrichtung Kakao-Mousse.
Die Deutung mancher Beigaben ist leicht. Manche lassen Rätselraum. Was hat es mit dem Brotstück für eine Bewandtnis, fragt sich der unbedarfte Betrachtende. Aber ist die Erklärung so wichtig? Auch wer die Geschichte nicht kennt, ertastet doch gleich den Kern dieses schlichten Symbols.
Schon vor Jahrtausenden legten die Ägypter ihren Toten Lieblingsdinge und Nützliches mit ins Grab: Essensboxen mit mumifizierten Gänsen, Kämme und Rasiermesser, Salben und Sandalen, Betten und Brettspiele, Gold und Medizin. Lampen, Dolche und meterlange Papyrusrollen mit magischen Sprüchen als Schutz vor den Dämonen der Unterwelt. Geschnitzte Dienerfiguren in einer Art Puppenstube, die dann im Totenreich sämtliche anfallenden Arbeiten erledigen konnten.
Nach altägyptischer Vorstellung durchsegelt Sonnengott Re auf seiner Himmelsbarke täglich das Diesseits und kommt am Abend gealtert im Westen an. Nachts quert er die Wasser der Unterwelt, wird eins mit dem Totengott Osiris und erleuchtet dessen Reich. Am Morgen erscheint er verjüngt am östlichen Horizont der Oberwelt. Auch jeder Gestorbene wird im Jenseits wiedergeboren, nur gibt es für ihn kein Zurück mehr. Wer klug ist, sorgt für das andere Leben vor: mit Möbeln und Münzen, Make-up und Magie im Sarkophag.
Selbst das gesamte Pharaonengold ist ein Klacks gegen die Grabbeigaben des 210 v. Chr. gestorbenen Qin Shihuangdi, dem ersten Kaiser von China. Sein Mausoleum ist so groß wie Flensburg: 56 Quadratkilometer. 37 Jahre haben sich Tausende Bauern daran zugrunde geschuftet.
Glaubt man der Chronik des sagenhaften Geschichtsschreibers Sima Qian, strömten darin Quecksilberflüsse, erhoben sich Berge aus Edelsteinen. Handwerker bauten Selbstschussanlagen gegen Eindringlinge – und wurden danach genauso lebendig begraben wie die Konkubinen, die dem Kaiser keinen Sohn geboren hatten.
Während das Hauptgrab des Qin Shihuangdi bis heute archäologisch unberührt geblieben ist, wurde in einem der unzähligen Nebengräber die berühmte Terrakotta-Armee geborgen – 8000 aus Ton geformte Krieger. In einem unterirdischer Kanal legte man Kraniche, Trommler und Flötenspieler aus Bronze frei. Man fand eine Grube, bevölkert von Kraftprotzen. Eine mit Artistenfiguren, die Arme kapriziös verdreht. Eine mit fettbäuchigen Regierungsbeamten. Eine mit Tonpferden und Pferdeskeletten. Der große Kaiser nahm offenbar sein ganzes Reich mit ins Grab, die Kopie seines Chinas. Auch irgendwie ein „Abbild Mensch“.

Andreas Reiners Bilder werden kleinformatig ausgestellt. Man soll nah herankommen, die Tabuzone verlassen, auf Entdeckungsreise gehen in Wimmelbildern der Seele. Vielleicht fragt sich manch Besuchender: „Was würde ich selbst mitnehmen wollen? Was verkörpert mich?“ Ein Akkordeon vielleicht? Oder ein Smartphone? Wobei elektronische Geräte bei Feuerbestattungen verboten sind. Letztlich können die Fotos nur Daseinssplitter zeigen.

Der Stuttgarter Grünen-Stadtrat Aytekin Celik hat im Juli mit 50 Jahren den Planeten Erde verlassen. Er war ein großer Fan der „Star-Wars“-Filme und wollte im Kostüm seines Helden, des guten Jedi-Ritters Obi-Wan Kenobi, beigesetzt werden. Samt Laserschwert. Andreas Reiner durfte ihn fotografieren.
Eine amerikanische Firma macht auch seinen letzten Wunsch wahr, nach dem irdischen Ableben im Weltall zu kreisen. In zwei Jahren wird die Kapsel mit DNA aus Celiks Speichel zusammen mit anderen Kapseln in Houston/Texas an Bord einer Trägerrakete hochgeschossen. „So wissen seine Freunde ihn immer über sich, wenn sie in den Himmel schauen“, sagt seine ältere Schwester Güldane.
Ausstellung
Andreas Reiner lebt auf einem Bauernhof in Galmutshöfen 28, 88447 Warthausen.
In seiner Scheuer zeigt er am
Totensonntag, 21. November 2021,
ab 11 Uhr „wenn die Kirche aus ist“ seine Ausstellung „Abbild Leben“
ab 17 Uhr gibt der Pianist Dirk Maassen ein Klavierkonzert.
Der Eintritt ist frei.
Es gelten die aktuellen Corona-Verordnungen.
[Fotos: Andreas Reiner, Caroline Bröstzl, Angelika Frey]